Die erste Scheidung mit drei – Jungs spielen mit Jungs und Mädchen mit Mädchen

Angeboren? Anerzogen? Was macht „typische“ Mädchen und Jungen? Ein Knäuel von Biologie, Psychologie und Umwelt-Einflüssen, das schwer zu entknoten ist.

 

Wir erziehen doch beide gleich!

Mädchen spielen mit Puppen, Jungen mit Dinosauriern und Autos. Mädchen sind zickig, Jungen schlagen und vertragen sich. Mädchen sind lieb und süß, Jungen sind wild. Mädchen sind bescheiden, Jungen bluffen. Mädchen sind Prinzessinnen, Jungen sind Helden. Stimmt das wirklich? Aussagen dieser Art hat jeder schon einmal gehört, hin und wieder vielleicht auch gedacht und ausgesprochen. Aber was ist daran? Und wenn etwas daran ist: Ist das so, weil die Kinder dazu erzogen wurden? Oder wurden sie so geboren? Gibt es doch das angeborene „typische“, geschlechtsspezifische Erleben und Verhalten? Wissenschaftlich belegt sind deutliche Unterschiede in Bezug auf das Einfühlungsvermögen, die Selbstbehauptung, körperliche Aggression und soziales Lächeln. Dagegen ermittelten Forscher bei den verbalen, mathematischen und technischen Fähigkeiten, bei Führungsqualitäten und Geselligkeit nur sehr geringe Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen oder später zwischen Frau und Mann. Trotzdem hält sich der Frauen-Anteil in der technischen Arbeitswelt und in der Politik bis heute in engen Grenzen. Wenn Mädchen und Jungen also auch von Natur aus verschieden in ihrem Fühlen, Denken und Handeln sein mögen, dann muss doch noch ein beträchtlicher Einfluss der Umwelt dazu kommen. Zudem beobachten viele Eltern: Sie mögen sich noch so sehr bemühen, ihre Söhne und Töchter gleich zu erziehen, sie entwickeln trotzdem unterschiedliche Interessen, Vorlieben und Verhaltensweisen. Ich selbst legte großen Wert darauf, meine beiden Töchter nicht zu „typischen“ Mädchen zu erziehen. Beide bekamen Puppen, Autos, Legos und Eisenbahn zum Spielen, und sehr früh schon konnten sie mit Werkzeug hantieren. Die ältere Tochter nahm das Angebot an; sie spielte sehr gerne Puppen, werkelte schon als Zweijährige eifrig mit dem Schraubenzieher und baute leidenschaftlich gerne aus Legos Fahrzeuge jeglicher Art, systematisch und nach Plan. Heute studiert sie Maschinenbau. Die jüngere Tochter dagegen interessierte sich wenig für Puppen und die Werkstatt; sie bevorzugte musische und sportliche Aktivitäten – Geräteturnen, Musik und kreatives Gestalten. Und mit ihren 14 Jahren legt sie großen Wert auf typisch weibliche Attribute.

Orientierung am eigenen Geschlecht

An der Erziehung allein kann es also nicht liegen. Tatsächlich sei das herkömmliche Modell zu eng, demzufolge Mädchen und Jungen die unterschiedlichen Denk-und Verhaltensmuster von ihren Eltern, Erzieherinnen, Lehrern und anderen Erwachsenen übernehmen, meint Eleanor Maccoby in ihrem Buch „Psychologie der Geschlechter“ (im Klett-Cotta-Verlag). Ihre Beschreibung der unterschiedlichen Kulturen von Mädchen und Jungen macht überraschend deutlich: Schon im dritten Lebensjahr spielen Mädchen am liebsten mit Mädchen und Jungen mit Jungen – eine Beobachtung, die sich in jeder Kindertagesstätte überprüfen lässt.

Frau B. kommt mit ihrem zweieinhalbjährigen Sohn zum Anmelden in den Kindergarten. Tim möchte zu den Kindern, und so begleite ich ihn ins Gruppenzimmer der Drei- bis Vierjährigen. Auf dem Spielteppich hantieren drei Jungen mit einem Werkzeugkoffer, zwei Mädchen spielen zusammen mit der Erzieherin ein Brettspiel. Tim schaut, dann geht er geradewegs zu den Jungen, nimmt sich die Bohrmaschine und beginnt zu arbeiten.

Diese selbst gewählte Geschlechtertrennung findet sich in hoch entwickelten Industriegesellschaften ebenso wie bei Naturvölkern. Bei Dreijährigen staunen viele Eltern noch darüber, bei Vier-, Fünfjährigen halten die meisten das schon für „normal“ und erwarten es sogar: Richtige Mädchen spielen mit Mädchen, ein richtiger Junge spielt mit Jungen.

Noch ausgeprägter als im Kindergarten zeigt sich die Bevorzugung des eigenen Geschlechts im Schulalter. In der dritten und vierten Klasse finden sich die meisten Jungen und Mädchen gegenseitig nur „blöd“. Jetzt, bei den Acht- bis Elfjährigen, ist die Trennung am strengsten. Dabei lehnen Jungen das andere Geschlecht noch schärfer ab als Mädchen. Sie grenzen sich auch gegenüber der Erwachsenenwelt stärker ab und orientieren sich stärker an ihren Altersgenossen. Vielleicht liegt es daran, dass der weitaus größte Teil der Erziehungsaufgaben in Familien, Kindergärten und Grundschulen von Frauen geleistet wird? Verstehen Mütter, Erzieherinnen und Lehrerinnen die Jungen in ihrem Fühlen, Denken und Handeln überhaupt? Erkennen sie ihre Botschaften und Bedürfnisse und können sie angemessen darauf reagieren?

Die Orientierung am eigenen Geschlecht spiegelt sich in unterschiedlichen Interessen und Spiel-Vorlieben: Mädchen bevorzugen bei Rollenspielen meistens das Familienspiel „Mutter und Kind“, Prinzessin und Fee; nur wenige spielen Hexe oder Pirat. Jungen dagegen spielen meist wilde Tiere, Ritter, Piraten oder Superman. Und schon im Vorschulalter legen sie Wert darauf, sich nicht mit „mädchenhaften“ Spielsachen und Aktivitäten zu beschäftigen. Der dreijährige Noah liebt das goldene Rüschenröckchen, die Perlenketten und die Stöckelschuhe. Jeden Morgen verkleidet er sich damit und freut sich – bis die anderen Jungen ihn auslachen und ihm zurufen: Der Noah ist ein Mädchen!

Einmal Macho, immer Macho?

Deutlich zeigt sich bei diesen Spielen auch die unterschiedliche Art, wie Mädchen und Jungen miteinander reden und agieren. Unter Jungen heißt die wichtigste Frage: „Wer ist der Chef? Wer ist der Stärkere?“ Körperliche und verbale Machtkämpfe klären die Rangordnung, anschließend gilt es den eigenen Status zu sichern. Das Schlimmste wäre, von den männlichen Spielkameraden als Schwächling angesehen zu werden.

Mädchen toben und kämpfen deutlich weniger und zeigen weniger direkte verbale und körperliche Aggressionen. Bei ihren Spielen ist mehr Kooperation anstelle von Rivalität gefordert; sie wollen Entscheidungen häufiger gemeinsam treffen und ein Team bilden. Eine „Bestimmerin“ ist in Mädchengruppen selten zu finden; oft werden Kinder sogar ausgeschlossen, wenn sie sich so gebärden. Aggressionen und Streit tragen sie eher indirekt aus, durch soziale Ausgrenzung: „Ich bin nicht mehr deine Freundin.“ Auf Widerstand stoßen Kinder, deren Verhalten von der „Norm“ abweicht, aber nicht nur bei ihren Spielgefährten; auch vielen Eltern bereiten sie damit Kopfzerbrechen.

Wiederholt beklagt sich Frau E. bei der Erzieherin ihrer Tochter, weil Sandra gerne mit den Jungen herumtobt und hin und wieder mit blauen Flecken heimkommt. Sandra soll im Kindergarten mit Mädchen spielen und wie andere Mädchen „schöne“ Bilder malen; von der Erzieherin erwartet Frau E., dass sie diese Vorstellungen durchsetzt.

Kein Platz für Bestimmerinnen

Immerhin genießen Mädchen (und Frauen) noch einen gewissen Spielraum; schon allein die Kleidung macht das deutlich. Während es vielen Erwachsenen noch gelingt, ein burschikoses Mädchen zu akzeptieren, sehen sich mädchenhafte Jungen mit rigideren Erwartungen konfrontiert.

Beim Kindergottesdienst am Ostersonntag sollen Kinder das Evangelium szenisch darstellen. Felix (9) erklärt sich bereit, eine der drei Frauen zu spielen, die am Ostermorgen zum Grab gehen. Seine Mutter (selbst Erzieherin), die den Gottesdienst leitet, ist entsetzt und fragt ihren Sohn dreimal, ob er wirklich eine Frau spielen möchte. In einem früheren Gottesdienst hatte dieselbe Erzieherin kein Problem damit, dass Mädchen die Jünger Jesu spielten, also eine männlich Rolle übernahmen.

„Männer sind immer die Chefs“

Mindestens genauso stark wie diese (den Eltern selbst oft kaum bewussten) Vorstellungen von „richtigen“ Mädchen und Jungen beeinflusst ihr persönliches Vorbild das Verhalten der Kinder. Im Alter von zwei, drei Jahren erkennen die Kleinen das eigene Geschlecht und machen sich die entsprechenden gesellschaftlichen Normen zu eigen: Mädchen wollen sein wie Mädchen und Frauen, Jungen so wie Jungen und Männer.

Schon im Kindergartenalter können sie Spielsachen, Kleidungstücke, Kosmetikartikel oder Tätigkeiten Frauen oder Männern zuordnen. Als Maßstab dienen dabei vor allem die eigenen Eltern. Und in vielen Familien dominiert bis heute eine sehr deutliche Geschlechtertrennung. Der Mann ist berufstätig, die Frau ist für Haushalt und Kinder zuständig und verdient vielleicht nebenbei noch „etwas dazu“. Diese Rollenverteilung wirkt modellhaft und wird von den Kindern vielfach übernommen – trotz aller Bemühungen, traditionelle Geschlechterrollen aufzubrechen. Denn es nutzt wenig, wenn Eltern zwar „die gleiche Erziehung“ für ihre Töchter und Söhne proklamieren, gleichzeitig aber selbst eine traditionelle Rollenaufteilung vorleben; das konnte der Entwicklungspsychologe Hans Trautner in Studien nachweisen.

Und die Konsequenzen?

• Zunächst einmal: Erwarten wir nicht zu viel von unserem erzieherischen Einfluss. Dem sind nämlich Grenzen gesetzt – durch die individuellen Anlagen und das Temperament der Kinder, durch ihre Freunde, das gesellschaftliche Umfeld und die Medien.

• Dann: Vertrauen wir unseren Kindern. Sie haben ein gutes Gespür dafür, was ihnen gut tut und welche Freunde zu ihnen passen. Wir können ihnen Orientierung geben, nicht aber unser Denken und Fühlen.

• Machen wir uns unsere eigenen Erwartungen bewusst: Was wünsche ich mir für meine Tochter/meinen Sohn? Entspricht das ihren eigenen Talenten? Was befürchte ich? Was ist für mich „typisch Mädchen/Frau“ und „typisch Junge/Mann“? Welche Anteile entdecke ich davon in mir selbst? Was will oder kann ich meinen Kindern zugestehen?

• Achten wir darauf, welche Maßstäbe wir unseren Kindern nahelegen. Welches Vorbild geben wir selbst? Welche „Spielzeuge“ bekommen unsere Kinder? Sind Barbie und Lillifee, die Wilden Kerle und Bionicle-Figuren realistische Modelle?

• Hüten wir uns davor, unangemessenes Verhalten als „typisch Mädchen“ oder „So sind Jungen eben!“ zu entschuldigen. Kinder müssen lernen, unabhängig vom Geschlecht, sich in einer Gemeinschaft zurechtzufinden und Konflikte angemessen zu bewältigen. Dazu brauchen sie unsere Unterstützung. Sie brauchen eindeutige Regeln für den Umgang miteinander und müssen aus den Folgen des eigenen Handelns lernen.

• Warum also gewähren Eltern Jungen mehr Freiräume und lassen bei ihnen mehr Nachsicht walten, obwohl sie häufiger und offensichtlicher als Mädchen gegen Regeln verstoßen? Manchmal habe ich den Verdacht, dass schon vierjährige Söhne die Chefrolle übernehmen…

Allerdings tun sich auch Erzieherinnen mit dem typischen Verhalten von Jungen oft sehr schwer. Zum Beispiel versuchen sie immer wieder, die Jungen davon zu überzeugen, dass sie beim Spielen keinen Chef brauchen, sondern alles miteinander regeln können – ohne Erfolg. Wie wäre es, wenn wir uns stattdessen das Bedürfnis der Jungen nach klaren Strukturen zu nutze machten? Jungen sagen uns eindeutig, was sie brauchen: starke Eltern und Erzieherinnen, die sie als „Chef“ anerkennen können – also Autorität im positiven Sinne.
Und umgekehrt wünsche ich mir, dass wir Mädchen zu mehr Selbstbewusstsein erziehen, dass sie lernen, ihre eigene Meinung zu vertreten, und sich nicht scheuen, die Rolle der Bestimmerin zu übernehmen.

• Und last but not least: Vergessen wir nicht, dass Kinder erst dabei sind, sich zu entwickeln, dass sie dabei notwendigerweise manches ausprobieren müssen und sich möglicherweise noch um 180 Grad drehen werden. Auch das haben Trautners Langzeit-Untersuchungen nachgewiesen: Viele Kinder, die ihre Welt anfangs besonders rigide in männlich/weiblich aufteilten, handhaben die Geschlechterrollen später nicht weniger offen als andere. Offensichtlich haben die vermeintlichen Machos sich im Kindergarten ihrer Männlichkeit ausreichend versichert – und brauchen sie deshalb nicht immer wieder herauszukehren.

Vielleicht können wir dann über solche Episoden lächeln, statt uns die Haare zu raufen:     
Max (17), groß und kräftig, macht ein Praktikum im Kindergarten. Bereits nach wenigen Tagen hört die Gruppenleiterin, wie ein paar Kinder sich unterhalten: „Der Max hat gesagt… Der Max ist der Chef im Kindergarten…“ Sie klinkt sich ein: „Wie kommt ihr denn darauf, dass Max hier der Chef ist?“ Darauf die Kinder einstimmig: „Der Max ist ein Mann. Und Männer sind immer die Chefs.“ Seit diesem Tag kommen immer wieder Kinder zu mir und vergewissern sich: „Georgine, bist du der Chef vom Kindergarten?“

 

Georgine Dimmler